«Die Erweiterungspolitik der EU ist ein sicherheitspolitisches Instrument» (2024)

Interview

Zwar ist die Ukraine EU-Beitritts-Kandidatin. Aber solange Brüssel an seinem technokratischen Beitrittsverfahren festhalte, sei eine Mitgliedschaft ausgeschlossen, sagt die Politikwissenschafterin Veronica Anghel im Gespräch mit Andreas Ernst.

5 min

Drucken

Frau Anghel, die EU-Kommission hat der Ukraine im Juni ein Zwischenzeugnis ausgestellt: Es stellt Fortschritte bei der Unabhängigkeit der Justiz und der Medienfreiheit fest, aber das Ausmass der Korruption und der Schutz von Minderheiten bleiben problematisch. Wann wird das Land der EU beitreten?

Wenn Sie damit meinen, wann die Ukraine Vollmitglied der EU sein wird, dann liegt das weit in der Ferne. Denn die EU hat das nicht auf der Agenda. Aber es ist offensichtlich, dass der russische Krieg in der Ukraine die Erweiterungspolitik der EU mit neuem Leben erfüllt hat. Eine Woche nach dem Angriff im Februar 2022 stellten die Ukraine, die Moldau und Georgien ein Beitrittsgesuch. Und bereits im Juni desselben Jahres erhielten die Ukraine und die Moldau einstimmig den Kandidatenstatus. Dieses Tempo ist beispiellos. Aber jetzt wird es sehr viel langsamer gehen und schwieriger werden.

Hat die EU nur Symbolpolitik betrieben? Ging es vor allem darum, dem angegriffenen Land Mut zu machen?

Nein, nicht nur. Denn die Bedrohung Europas durch diesen Krieg ist real, und die EU will ihre Aussengrenzen stabilisieren. Die Erweiterungspolitik ist auch ein sicherheitspolitisches Instrument und ein Mittel, mit Risiken umzugehen. Das Beitrittsverfahren ist kein Hindernislauf oder objektives Prüfverfahren, an dessen Ende die Mitgliedschaft steht.

War das bei früheren Erweiterungsrunden auch der Fall? Etwa 2004, als in einer Integrationsrunde zehn vor allem ostmitteleuropäische Länder beitraten?

Schon immer hatten Erweiterungsrunden viele Beweggründe. In dem genannten Fall der grossen Erweiterung nach Osten drängten vor allem die Länder selber auf den Beitritt. Die Union war dagegen fast immer zurückhaltend. Sie hatte nie einen grossen Plan, wie sie wachsen sollte. Im Gegenteil: Der Beitrittswunsch der Länder führte dazu, dass die EU die Hürden schnell sehr hoch legte. 1993 schuf sie zu dem Zweck die sogenannten «Kopenhagener Kriterien» betreffend Demokratie, Marktwirtschaft und Rechtsstaatlichkeit. Die Erfahrung der Jugoslawienkriege (1992–1999) beschleunigte dann allerdings die Dinge. Das sicherheitspolitische Argument, etwa mit Blick auf ethnische Konflikte um die ungarischen Minderheiten in Rumänien oder der Slowakei, wurde stärker. Solchen Risiken wollte man begegnen. Das erleichterte den Osteuropäern den Beitritt.

«Die Erweiterungspolitik der EU ist ein sicherheitspolitisches Instrument» (2)

War das der Moment, in dem die EU erstmals nicht nur ökonomisch, sondern auch geopolitisch kalkulierte?

Ja, dieser Pfad wurde damals zum ersten Mal begangen. Das war auch stark von den USA gefordert worden. Man bezeichnet die EU oft als einen zurückhaltenden geopolitischen Akteur. Und auch wenn ihr das Denken in machtpolitischen Kategorien eigentlich nicht liegt, wird sie jetzt doch zunehmend in diese Rolle gedrängt. Die Erweiterungspolitik ist ein Instrument, um in dem Konflikt um die Ukraine weiterhin eine Rolle spielen zu können.

Um das auch längerfristig tun zu können, müsste die EU aber das Versprechen des Beitritts auch einlösen können. Auf dem Westbalkan hat der Prozess der Erweiterung mit seinen Standards und technischen Kapiteln nicht funktioniert. Weshalb sollte er in der Ukraine funktionieren?

Die Antwort lautet: Er wird nicht funktionieren. Die EU setzt die Erweiterung als einen Stabilisierungsmechanismus ein, ohne wirklich mit der Mitgliedschaft zu rechnen. Die Ukraine und die Moldau sind aber im Vergleich mit dem Westbalkan geopolitisch viel exponierter. Dort ist es zu dem fast vollständigen Verlust der Glaubwürdigkeit der Erweiterungspolitik gekommen. Das könnte auch in der Ukraine und der Moldau geschehen.

Wie sollte die EU denn jetzt im Fall der Ukraine vorgehen?

Sie sollte nicht warten, bis der Krieg zu Ende ist, sondern sofort eine enge Zusammenarbeit mit dem Land beginnen. Zurzeit ist die EU personell und institutionell in dem Land nur schwach aufgestellt, ganz anders, als es die Amerikaner im militärischen Bereich sind. Die Ukraine muss aber ein echter Verhandlungspartner sein, wenn es darum geht, einen neuen Beitrittsmechanismus zu entwickeln. Man kann dem Land nicht einfach einen Anforderungskatalog vorlegen, den es dann abarbeiten muss. Dass das in Ländern mit offenen territorialen Fragen und Problemen der Regierungsführung nicht funktioniert, zeigt der Blick auf den Westbalkan.

Das leuchtet ein, aber am Schluss ist es doch die EU, die die Zugangskriterien definiert.

Selbstverständlich, aber die EU kann es sich gar nicht leisten, das Land einfach sich selbst zu überlassen. Die Ukraine ist von viel zu grosser geopolitischer Bedeutung für Europa.

Wäre eine stufenweise Integration zielführend?

Ja, schon heute sind die Mitgliedsländer verschieden stark integriert. Das schafft Flexibilität. Es ist wichtig, dass die Kandidaten möglichst früh mit am Tisch sitzen und in gewissen Bereichen auch schon mitbestimmen können, wenn sie noch keine vollen Mitglieder sind. Letztlich sind es politische Entscheidungen, die zur Mitgliedschaft führen. Die entscheidende Frage ist doch: Verändert der Beitrittsprozess die Kandidaten? Konkret: Nimmt die Leistungsfähigkeit des Staates zu? Steigt in der Bürgerschaft das Vertrauen in den Staat und in die EU? Gewinnt die Union an Glaubwürdigkeit, oder geht sie verloren, wie auf dem Westbalkan?

Wie soll denn die Beziehung der Union mit der Ukraine aussehen?

Dazu sind Verhandlungen auf Augenhöhe notwendig. Die EU sollte sich – anders als heute – gegenüber der Ukraine und den andern Kandidaten als Partnerin verhalten. Dass sie damit Mühe hat, zeigt auch ihr Umgang mit Ländern des globalen Südens. Es muss der Union als geopolitischem Akteur aber klar sein, dass sie nicht die einzige Option für diese Länder ist. Mit ihrem Selbstbehauptungswillen und dem Widerstand gegen den russischen Imperialismus haben die Ukrainer das Denken in Einflusssphären infrage gestellt, das auch in Europa weit verbreitet ist. Danach lag dieses Landes in einer osteuropäischen Zwischenzone. Mit dieser Vorstellung hat die Ukraine jetzt aufgeräumt. Sie gibt damit der EU beziehungsweise ihren Mitgliedsstaaten auch eine Möglichkeit, sich von der kolonialen Vergangenheit zu distanzieren.

Kommen wir nochmals zurück zur Erweiterungsfrage...

Die EU muss sich entscheiden, ob sie sich wirklich erweitern will oder ob sie mit diesen Ländern in eine andere, sehr enge Zusammenarbeit eintreten will. Dieser Aushandlungsprozess wird darüber entscheiden, wie die EU der Zukunft aussehen wird. Zurzeit verfolgt sie keinen dieser beiden Pfade. Ihre Politik ist rein reaktiv.

Könnte man sagen, dass die Erweiterung in den Osten nichts anderes als eine Ausweitung der Einflusssphäre der EU ist? Ist sie auf dem Weg, ein «liberales Imperium» zu werden?

Ich glaube, das Wort «Imperium» sollte in diesem Zusammenhang besser vermieden werden. Es ist angesichts der europäischen Kolonialgeschichte sehr negativ besetzt. Die Zusammenarbeit mit den Ländern im Osten und im Südosten sollte nach Kriterien erfolgen, die in einem klaren Widerspruch zu den Rezepten des Imperialismus stehen: Sie muss freiwillig sein, auf Verhandlungen beruhen, Rechtscharakter haben und für beide Seiten nützlich sein. Die Art und Weise, wie die Erweiterung der Union in Zukunft vor sich geht, wird schliesslich darüber entscheiden, ob daraus ein Klub der Gleichberechtigten wird oder eben ein «liberales Imperium».

Passend zum Artikel

Korruption bleibt die grösste Hürde der Ukraine auf dem Weg in die EU Die Ukraine will noch in diesem Jahr Beitrittsgespräche mit Brüssel führen. Das ist mehr als fraglich. Ein Zwischenbericht der Kommission stellt dem Land schwache Noten aus.

Daniel Steinvorth, Brüssel

3 min

Kommentar Wie das Jahrhundertprojekt des Wiederaufbaus der Ukraine gelingen kann Das Land möchte den Krieg und seine sowjetische Vergangenheit abschütteln und zu einem modernen westlichen Staat werden. Einfach wird das nicht, aber es ist eine Chance für ganz Europa.

Peter A. Fischer

6 min

Kommentar Die Ukraine fürchtet zu Recht, dass es der EU mit der Mitgliedschaft nicht ernst ist Der Konflikt zwischen Warschau und Kiew um die ukrainische Getreideschwemme ist ein Fingerzeig. Mit der jetzigen Agrarpolitik ist der EU-Beitritt eine Illusion. Alternativen sind dringend gefragt.

Andreas Ernst

3 min

«Die Erweiterungspolitik der EU ist ein sicherheitspolitisches Instrument» (2024)

FAQs

Wer entscheidet über die Erweiterung der EU? ›

Auf Grundlage dieser Stellungnahme entscheidet der Rat der EU, ob er dem Beitrittsgesuch stattgibt und ob darüber hinaus Beitrittsverhandlungen eröffnet werden. Erteilt der Rat der EU der Europäischen Kommission ein Mandat zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen, können diese beginnen.

Was ist die Gemeinsame Außen und Sicherheitspolitik der EU? ›

Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik

Friedenserhaltung. Stärkung der internationalen Sicherheit. Förderung der internationalen Zusammenarbeit. Entwicklung und Konsolidierung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie Einhaltung der Menschenrechte und Grundfreiheiten.

Was ist GASP EU? ›

Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU (GASP) wurde 1993 begründet und durch spätere Vertragsänderungen gestärkt. Inzwischen leistet das Parlament regelmäßig Beiträge zur Entwicklung der GASP, insbesondere durch Überprüfung der Aktivitäten der in diesem Bereich tätigen institutionellen Akteure und Organe.

Welches Land kommt als nächstes in die EU? ›

EU Beitrittsverhandlungen mit Serbien, Montenegro und seit Juli 2022 auch Albanien und Nordmazedonien. Mit der Türkei liegen die Verhandlungen derzeit aber auf Eis. Potenzielle Beitrittskandidaten sind Kosovo und Georgien.

Was sind die 4 Konvergenzkriterien? ›

Die Konvergenzkriterien lauten u.a. : Das öffentliche Defizit darf nicht mehr als 3 Prozent des BIP betragen. Der öffentliche Schuldenstand darf nicht mehr als 60 Prozent des BIP betragen. Die Inflationsrate darf maximal 1,5 Prozent über jener der drei preisstabilsten Mitgliedstaaten des Vorjahres liegen.

Wann war die erste Erweiterung der EU? ›

Erste Erweiterung (Norderweiterung) EG 1973

Bei der so genannten Norderweiterung am 1. Januar 1973 traten Dänemark, die Republik Irland und das Vereinigte Königreich der EG bei. Norwegen, welches ebenfalls die Mitgliedschaft beantragt hatte, konnte wegen eines ablehnenden Votums der Bevölkerung nicht beitreten.

Was gehört alles zur Sicherheitspolitik? ›

Die Sicherheitspolitik ist organischer Bestandteil der Gesamtpolitik. Sie umfasst die allgemeinverbindliche, dabei interessengeleitete Gestaltung (Schaffung, Wahrung, Stärkung) der inneren wie äußeren Sicherheit von Individuen und Gemeinschaften, Organisationen, Institutionen in und für Gemeinwesen.

Wer ist der Hohe Vertreter der Außen- und Sicherheitspolitik? ›

Ernannt wird der Hohe Vertreter mit qualifizierter Mehrheit für die Funktionsperiode der Europäischen Kommission im Einvernehmen mit dem Kommissionspräsidenten nach Zustimmung des Europäischen Parlaments vom Europäischen Rat. Aktueller Amtsinhaber ist seit dem 1. Dezember 2019 Josep Borrell.

Was versteht man unter internationaler Friedens und Sicherheitspolitik? ›

Eine Friedens- und Sicherheitspolitik, die auf den Werten der Sozialen Demokratie basiert, fördert Regeln und Mechanismen der internationalen Zusammenarbeit und eine Politik, die auf Dialog, Krisenprävention und zivile Konfliktbearbeitung setzt.

Welche drei Säulen stützen die EU? ›

I. Der Vertrag von Maastricht
  • Die Europäische Gemeinschaft (erste Säule) ...
  • Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) (zweite Säule) ...
  • Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres (dritte Säule)
Mar 31, 2024

Was sind die 3 Kopenhagener Kriterien? ›

Die Kopenhagener Kriterien, die die Staaten für ihre Aufnahme in die EU zu erfüllen haben, werden auch als drei übergeordnete Kriterien dargestellt: das „politische Kriterium“, das „wirtschaftliche Kriterium“ und das „Acquis-Kriterium“.

Welche Werte vertritt die EU nach außen? ›

Freiheit, Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit in einem Raum ohne Binnengrenzen bei angemessenem Schutz der Außengrenzen zur Regelung von Einwanderungs- und Asylfragen sowie zur Verhinderung und Bekämpfung von Kriminalität.

Ist Israel in der Europäischen Union? ›

[1] EU-Länder sind: Belgien, Bulgarien, Rumänien, Tschechische Republik, Dänemark, Deutschland, Estland, Griechenland, Spanien, Frankreich, Irland, Italien, Zypern, Lettland, Litauen, Luxemburg, Ungarn, Malta, Niederlande, Österreich, Polen, Portugal, Slowenien, Slowakei, Finnland und Schweden.

Welches Land hat den Euro ist aber nicht in der EU? ›

Der Euro ist auch die Währung einiger Nicht-EU-Länder:
  • Andorra.
  • Kosovo* ...
  • Montenegro.
  • Monaco.
  • San Marino.
  • Vatikanstadt.

Warum will Island nicht in die EU? ›

Bis zur Finanzkrise 2008 verhielten sich die Isländer abwartend bis ablehnend gegenüber einem EU-Beitritt, insbesondere wegen der zu befürchtenden Einschränkungen bei den Fischereirechten. Seither haben sich die Ansichten in der Bevölkerung und der Regierung mehrmals stark geändert.

Wer entscheidet in der Europäischen Union? ›

Die Europäische Kommission ist (von wenigen Ausnahmen abgesehen) alleine zuständig für die Erarbeitung von Vorschlägen für neue europäische Rechtsvorschriften. Als politisch unabhängige Exekutive der EU setzt sie außerdem Beschlüsse des Europäischen Parlaments und des Rates um und verwaltet den EU-Haushalt (Budget).

Wer entscheidet was in der EU? ›

Den offiziellen Status „Beitrittskandidat“ vergibt die EU an Staaten, die einen Aufnahmeantrag gestellt haben, welcher nach einer positiven Empfehlung durch die Europäische Kommission vom Rat der Europäischen Union einstimmig angenommen wurde.

Wer entscheidet in der EU Übersicht über die Organe der EU? ›

Der Rat der EU fasst gemeinsam mit dem Europäischen Parlament Beschlüsse über europäische Gesetze.

Warum sind die Norweger nicht in der EU? ›

Das Königreich Norwegen ist kein Mitglied der Europäischen Union. Die wahlberechtigten norwegischen Bürger haben einen Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft 1972 und einen EU-Beitritt 1994 in Volksabstimmungen abgelehnt.

References

Top Articles
Latest Posts
Article information

Author: Allyn Kozey

Last Updated:

Views: 6641

Rating: 4.2 / 5 (43 voted)

Reviews: 82% of readers found this page helpful

Author information

Name: Allyn Kozey

Birthday: 1993-12-21

Address: Suite 454 40343 Larson Union, Port Melia, TX 16164

Phone: +2456904400762

Job: Investor Administrator

Hobby: Sketching, Puzzles, Pet, Mountaineering, Skydiving, Dowsing, Sports

Introduction: My name is Allyn Kozey, I am a outstanding, colorful, adventurous, encouraging, zealous, tender, helpful person who loves writing and wants to share my knowledge and understanding with you.