Interview
Zwar ist die Ukraine EU-Beitritts-Kandidatin. Aber solange Brüssel an seinem technokratischen Beitrittsverfahren festhalte, sei eine Mitgliedschaft ausgeschlossen, sagt die Politikwissenschafterin Veronica Anghel im Gespräch mit Andreas Ernst.
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Frau Anghel, die EU-Kommission hat der Ukraine im Juni ein Zwischenzeugnis ausgestellt: Es stellt Fortschritte bei der Unabhängigkeit der Justiz und der Medienfreiheit fest, aber das Ausmass der Korruption und der Schutz von Minderheiten bleiben problematisch. Wann wird das Land der EU beitreten?
Wenn Sie damit meinen, wann die Ukraine Vollmitglied der EU sein wird, dann liegt das weit in der Ferne. Denn die EU hat das nicht auf der Agenda. Aber es ist offensichtlich, dass der russische Krieg in der Ukraine die Erweiterungspolitik der EU mit neuem Leben erfüllt hat. Eine Woche nach dem Angriff im Februar 2022 stellten die Ukraine, die Moldau und Georgien ein Beitrittsgesuch. Und bereits im Juni desselben Jahres erhielten die Ukraine und die Moldau einstimmig den Kandidatenstatus. Dieses Tempo ist beispiellos. Aber jetzt wird es sehr viel langsamer gehen und schwieriger werden.
Hat die EU nur Symbolpolitik betrieben? Ging es vor allem darum, dem angegriffenen Land Mut zu machen?
Nein, nicht nur. Denn die Bedrohung Europas durch diesen Krieg ist real, und die EU will ihre Aussengrenzen stabilisieren. Die Erweiterungspolitik ist auch ein sicherheitspolitisches Instrument und ein Mittel, mit Risiken umzugehen. Das Beitrittsverfahren ist kein Hindernislauf oder objektives Prüfverfahren, an dessen Ende die Mitgliedschaft steht.
War das bei früheren Erweiterungsrunden auch der Fall? Etwa 2004, als in einer Integrationsrunde zehn vor allem ostmitteleuropäische Länder beitraten?
Schon immer hatten Erweiterungsrunden viele Beweggründe. In dem genannten Fall der grossen Erweiterung nach Osten drängten vor allem die Länder selber auf den Beitritt. Die Union war dagegen fast immer zurückhaltend. Sie hatte nie einen grossen Plan, wie sie wachsen sollte. Im Gegenteil: Der Beitrittswunsch der Länder führte dazu, dass die EU die Hürden schnell sehr hoch legte. 1993 schuf sie zu dem Zweck die sogenannten «Kopenhagener Kriterien» betreffend Demokratie, Marktwirtschaft und Rechtsstaatlichkeit. Die Erfahrung der Jugoslawienkriege (1992–1999) beschleunigte dann allerdings die Dinge. Das sicherheitspolitische Argument, etwa mit Blick auf ethnische Konflikte um die ungarischen Minderheiten in Rumänien oder der Slowakei, wurde stärker. Solchen Risiken wollte man begegnen. Das erleichterte den Osteuropäern den Beitritt.
War das der Moment, in dem die EU erstmals nicht nur ökonomisch, sondern auch geopolitisch kalkulierte?
Ja, dieser Pfad wurde damals zum ersten Mal begangen. Das war auch stark von den USA gefordert worden. Man bezeichnet die EU oft als einen zurückhaltenden geopolitischen Akteur. Und auch wenn ihr das Denken in machtpolitischen Kategorien eigentlich nicht liegt, wird sie jetzt doch zunehmend in diese Rolle gedrängt. Die Erweiterungspolitik ist ein Instrument, um in dem Konflikt um die Ukraine weiterhin eine Rolle spielen zu können.
Um das auch längerfristig tun zu können, müsste die EU aber das Versprechen des Beitritts auch einlösen können. Auf dem Westbalkan hat der Prozess der Erweiterung mit seinen Standards und technischen Kapiteln nicht funktioniert. Weshalb sollte er in der Ukraine funktionieren?
Die Antwort lautet: Er wird nicht funktionieren. Die EU setzt die Erweiterung als einen Stabilisierungsmechanismus ein, ohne wirklich mit der Mitgliedschaft zu rechnen. Die Ukraine und die Moldau sind aber im Vergleich mit dem Westbalkan geopolitisch viel exponierter. Dort ist es zu dem fast vollständigen Verlust der Glaubwürdigkeit der Erweiterungspolitik gekommen. Das könnte auch in der Ukraine und der Moldau geschehen.
Wie sollte die EU denn jetzt im Fall der Ukraine vorgehen?
Sie sollte nicht warten, bis der Krieg zu Ende ist, sondern sofort eine enge Zusammenarbeit mit dem Land beginnen. Zurzeit ist die EU personell und institutionell in dem Land nur schwach aufgestellt, ganz anders, als es die Amerikaner im militärischen Bereich sind. Die Ukraine muss aber ein echter Verhandlungspartner sein, wenn es darum geht, einen neuen Beitrittsmechanismus zu entwickeln. Man kann dem Land nicht einfach einen Anforderungskatalog vorlegen, den es dann abarbeiten muss. Dass das in Ländern mit offenen territorialen Fragen und Problemen der Regierungsführung nicht funktioniert, zeigt der Blick auf den Westbalkan.
Das leuchtet ein, aber am Schluss ist es doch die EU, die die Zugangskriterien definiert.
Selbstverständlich, aber die EU kann es sich gar nicht leisten, das Land einfach sich selbst zu überlassen. Die Ukraine ist von viel zu grosser geopolitischer Bedeutung für Europa.
Wäre eine stufenweise Integration zielführend?
Ja, schon heute sind die Mitgliedsländer verschieden stark integriert. Das schafft Flexibilität. Es ist wichtig, dass die Kandidaten möglichst früh mit am Tisch sitzen und in gewissen Bereichen auch schon mitbestimmen können, wenn sie noch keine vollen Mitglieder sind. Letztlich sind es politische Entscheidungen, die zur Mitgliedschaft führen. Die entscheidende Frage ist doch: Verändert der Beitrittsprozess die Kandidaten? Konkret: Nimmt die Leistungsfähigkeit des Staates zu? Steigt in der Bürgerschaft das Vertrauen in den Staat und in die EU? Gewinnt die Union an Glaubwürdigkeit, oder geht sie verloren, wie auf dem Westbalkan?
Wie soll denn die Beziehung der Union mit der Ukraine aussehen?
Dazu sind Verhandlungen auf Augenhöhe notwendig. Die EU sollte sich – anders als heute – gegenüber der Ukraine und den andern Kandidaten als Partnerin verhalten. Dass sie damit Mühe hat, zeigt auch ihr Umgang mit Ländern des globalen Südens. Es muss der Union als geopolitischem Akteur aber klar sein, dass sie nicht die einzige Option für diese Länder ist. Mit ihrem Selbstbehauptungswillen und dem Widerstand gegen den russischen Imperialismus haben die Ukrainer das Denken in Einflusssphären infrage gestellt, das auch in Europa weit verbreitet ist. Danach lag dieses Landes in einer osteuropäischen Zwischenzone. Mit dieser Vorstellung hat die Ukraine jetzt aufgeräumt. Sie gibt damit der EU beziehungsweise ihren Mitgliedsstaaten auch eine Möglichkeit, sich von der kolonialen Vergangenheit zu distanzieren.
Kommen wir nochmals zurück zur Erweiterungsfrage...
Die EU muss sich entscheiden, ob sie sich wirklich erweitern will oder ob sie mit diesen Ländern in eine andere, sehr enge Zusammenarbeit eintreten will. Dieser Aushandlungsprozess wird darüber entscheiden, wie die EU der Zukunft aussehen wird. Zurzeit verfolgt sie keinen dieser beiden Pfade. Ihre Politik ist rein reaktiv.
Könnte man sagen, dass die Erweiterung in den Osten nichts anderes als eine Ausweitung der Einflusssphäre der EU ist? Ist sie auf dem Weg, ein «liberales Imperium» zu werden?
Ich glaube, das Wort «Imperium» sollte in diesem Zusammenhang besser vermieden werden. Es ist angesichts der europäischen Kolonialgeschichte sehr negativ besetzt. Die Zusammenarbeit mit den Ländern im Osten und im Südosten sollte nach Kriterien erfolgen, die in einem klaren Widerspruch zu den Rezepten des Imperialismus stehen: Sie muss freiwillig sein, auf Verhandlungen beruhen, Rechtscharakter haben und für beide Seiten nützlich sein. Die Art und Weise, wie die Erweiterung der Union in Zukunft vor sich geht, wird schliesslich darüber entscheiden, ob daraus ein Klub der Gleichberechtigten wird oder eben ein «liberales Imperium».
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